Freitag, 3. Mai 2013

Wenn Gegenstände soziale Kontakte ersetzen

Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Küche, der Schreibtisch biegt sich unter Papierbergen, auf dem Boden liegen Zeitschriften, Kleidung und Krimskrams: Es gibt Lebensphasen, in denen solch ein Chaos vorkommt. Die meisten Menschen können allerdings aufräumen, wenn sie wollen. Anders ist das bei den "Messies": Sie leiden unter dem Tohuwabohu in ihren vier Wänden, können jedoch nichts dagegen tun. In extremen Fällen sprechen Psychiater vom "Vermüllungs-Syndrom".

Die Bezeichnung "Messie" leitet sich vom englischen Begriff "mess" ab, was Unordnung oder Durcheinander heißt. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff durch Bücher der amerikanischen Sonderschulpädagogin Sandra Felton populär, die selbst ein Messie war. Als berufstätige Mutter von zwei Kindern versank sie zeitweise im Chaos. In ihren Büchern schildert sie, welche Strategien sie dagegen entwickelt hat und macht anderen Betroffenen Mut, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Bereits Anfang der 80er Jahre gründete sie eine Selbsthilfegruppe, nach deren Vorbild inzwischen viele weitere solcher Gruppen entstanden sind.

Das größte Problem der Messies ist ihre Unfähigkeit, ihr Leben zu organisieren – auf diesen Punkt bringt es Volker Faust. "Es ist das innere Chaos, das sich nach außen zeigt", so der emeritierte Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm und frühere Medizinaldirektor am Zentrum für Psychiatrie Ravensburg-Weissenau. Messies haben Schwierigkeiten, alltägliche Aufgaben wie Abwaschen, Akten einordnen oder Wäsche aufhängen zu erledigen, weil sie alles perfekt machen wollen. An diesem Anspruch scheitern sie jedoch. Dazu kommt, dass Messies nichts wegwerfen können und selbst nutzlose Gegenstände horten. Dieses Verhalten kann im Extremfall dazu führen, dass die Wohnung völlig vermüllt.


Sammeln gegen die Angst


Faust zufolge ist die permanente Unordnung für Messies ein Mittel, um Angst zu bewältigen, etwa die Angst vor Trennungen. Statt Beziehungen zu Menschen aufzubauen, klammern sie sich an oft völlig nutzlose Gegenstände. Ihre sozialen Kontakte sind häufig oberflächlich oder fehlen ganz.

"Betroffene müssen sich selbst als Messie erkennen und den Willen haben, sich zu ändern", sagt der Psychiatrie-Professor. In einer Selbsthilfegruppe mit Gleichgesinnten über ihre Probleme zu sprechen, kann ihnen helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Je früher sich Betroffene Hilfe suchen, desto besser ist es – davon ist der Experte überzeugt.

Ohne diese Bereitschaft ist es für Familienangehörige, Partner oder Freunde fast nicht möglich, ihnen zu helfen. Wenn andere einfach selbst die Wohnung oder das Zimmer eines Messies aufräumen, ist dies keine Lösung. Denn auf Aufräumaktionen reagieren viele Messies panisch – die plötzliche Leere raubt ihnen die Hoffnung, jemals selbst wieder Ordnung in ihr äußeres und inneres Chaos zu bringen.


Abgrenzung hilft Partnern


Laut Marianne Bönigk-Schulz vom Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms ist für Angehörige das Zusammenleben mit einem Messie oft sehr belastend. Um sich selbst zu schützen, rät sie, die Verhaltensweisen des Messies zu akzeptieren und sich keine Schuldgefühle zu machen. "Angehörige müssen erkennen, dass sie dem Betroffenen wenig bis keine Hilfe geben können", sagt Bönigk-Schulz. Um sich nicht selbst zu überfordern, sollten sie weiterhin ihren eigenen Interessen nachgehen und soziale Kontakte pflegen. Ist der Messie nicht bereit, sein Verhalten zu ändern, können sich Angehörige auch selbst Hilfe in einer Selbsthilfegruppe suchen.

Das "Messie-Syndrom" wird bislang nicht als eigenständige Erkrankung klassifiziert. Überschneidungen sieht Psychiater Faust zwischen dem "Messie-Syndrom" und dem "Vermüllungs-Syndrom". Von einem Messie- oder Vermüllungssyndrom sprechen Fachleute jedoch nur, wenn die Unordnung und die Unfähigkeit, nutz- und wertlose Dinge zu entsorgen, nicht Folge von Schädigungen des Gehirns oder von psychischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Demenz, Depressionen, Psychosen oder Suchterkrankungen sind. Gerade die Abgrenzung von anderen psychischen Erkrankungen ist jedoch oft schwierig.


Erste Zeichen schon in der Jugend


Obwohl das Messie-Syndrom in allen Altersgruppen auftreten kann, machen sich bei vielen Betroffenen erste Anzeichen der Erkrankung schon im Jugendalter bemerkbar. Die Betroffenen horten Gegenstände aller Art und heben auch Müll auf. Die Folge: Die Wohnungen verwahrlosen zunehmend. Während bei manchen die Zimmer noch durch schmale Gänge betretbar sind, gleichen andere Wohnungen Müllhalden und sind nicht mehr bewohnbar. Auch die Betroffenen verwahrlosen oft zunehmend, wollen dies allerdings nicht wahrhaben und verweigern alle Hilfsangebote. 

Aus psychologischer Sicht sind mehrere Gründe für das zwanghafte Horten beim Messie-Syndrom verantwortlich: Dazu gehören Probleme beim Kategorisieren, Organisieren und Entscheiden, außerdem Bindungsprobleme, das Vermeiden von Angst- und Verlustgefühlen und irrationale Annahmen wie das Gefühl, eine Verantwortung für die gehorteten Gegenstände zu haben. Typisch ist auch der soziale Rückzug, der bis zur völligen Isolation führen kann.
Da sich die Betroffenen für die Unordnung oder Vermüllung ihres Zuhauses schämen, vermeiden sie es meist, Fremde in ihre Wohnung zu lassen. Dadurch werden Außenstehende oft erst in einem späten Stadium auf die Erkrankung aufmerksam. "Wird die Tendenz zur Vermüllung dagegen frühzeitig erkannt, ist die Chance, die Hintergründe aufzuarbeiten größer als bei einem fortgeschrittenen Vermüllungsgrad", sagt Psychiater Faust.